
Scheren
Entfernung der natürlichen Klimaanlage
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Das dicke Winterfell eines Pferdes ist nicht nur ein einfacher Mantel, sondern ein komplexes, dynamisches Isolationssystem. Evolutionär optimiert, besteht es aus dichtem Unterfell und langen, groben Deckhaaren. Diese Haarstruktur fängt Luft ein und bildet eine isolierende Schicht, die die Körpertemperatur des Pferdes selbst bei extremen Minustemperaturen stabil halten kann. Das Pferd kann diese Dämmschicht aktiv durch Aufstellen oder Anlegen der Haare (Piloerektion) steuern. Wasser perlt an den Deckhaaren ab, sodass die isolierende Luftschicht trocken bleibt.
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Warum das Scheren ein Tierschutzproblem darstellt
Durch das Scheren entfernen wir dieses hochwirksame natürliche Isolationssystem. Das Pferd wird in seiner Fähigkeit, sich selbstständig an wechselnde Wetterbedingungen anzupassen, massiv eingeschränkt und wird damit vollständig abhängig vom menschlichen Management (Eindeckung).
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Ohne die natürliche Isolationsschicht muss das Pferd deutlich mehr Energie (Kalorien) verbrennen, um seine Kerntemperatur von etwa 38∘C zu halten. Das Scheren senkt den thermoneutralen Bereich des Pferdes, was bedeutet, dass es schneller zu zittern beginnt, um Wärme zu erzeugen. Diese erhöhte Stoffwechselleistung kann bei Pferden mit geringen Reserven schnell zu einem Nährstoffdefizit und einer allgemeinen Schwächung führen.
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Sobald das Fell entfernt ist, muss der Mensch das Decken-Management lückenlos und penibel übernehmen. Dies ist im hektischen Stallalltag eine große Fehlerquelle:
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Zu dicke Decke: Führt zum Überhitzen und Schwitzen. Die feuchte Haut unter der Decke kühlt extrem schnell aus, sobald die Decke abgenommen wird, und bietet zudem einen idealen Nährboden für Hautpilze und Bakterien.
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Zu dünne Decke: Führt zum Frieren. Langfristiges Frieren führt zu chronischen Muskelverspannungen (besonders im empfindlichen Rückenbereich) und schwächt die gesamte Immunabwehr.
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Das Fell schützt nicht nur vor Kälte und Nässe, sondern auch vor direkten mechanischen Reizen. Ein geschorenes Pferd ist u.a. empfindlicher gegenüber Scheuerstellen durch Decken oder Ausrüstung.
Tierschutz-Abwägung: Wann ist Scheren vertretbar?
Das Scheren stellt einen vermeidbaren Eingriff in die natürlichen Bedürfnisse des Pferdes dar und sollte nur unter strengen Voraussetzungen in Betracht gezogen werden:
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Übermäßige Wärmeproduktion bei Robustpferden und Ponys: Bei einigen Rassen, die genetisch bedingt extrem früh und dicht Winterfell bilden, kann es bereits bei der Schrittarbeit oder sogar im Ruhezustand (z.B. in der Herbstsonne oder im Stall) zur Überhitzung und zum Schwitzen kommen. Wenn das Pferd bereits beim Herumstehen oder bei leichtem Training schwitzt, muss gehandelt werden, da das lange, nasse Fell ebenfalls die Gefahr von Erkältungen und Kreislaufproblemen birgt. Hier kann ein Teilschur notwendig sein.
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Pferde mit gesundheitlichen Einschränkungen: Pferde mit bestimmten Krankheiten (z.B. Cushing-Syndrom) oder altersbedingt, die nicht in der Lage sind, ihr langes, dichtes Fell saisonal abzuwerfen, müssen oft geschoren werden, um eine Überhitzung zu vermeiden.
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Intensives Sporttraining: Ein Pferd, das täglich hart (mehrere Stunden) arbeitet und dabei stark schwitzt, muss schnellstmöglich trocken werden, um keine Erkältung oder Kreislaufprobleme (durch langes Nachschwitzen) zu riskieren. Hier kann das Scheren – kombiniert mit einem durchdachten Decken-System – die gesündere Option sein.
Wichtige Anmerkung für Freizeit- und Turnierreiter: Bei Pferden, die nicht im Hochleistungsbereich unterwegs sind, aber im Winter nass geritten werden, ist das Scheren nicht notwendig. Der Reiter hat die tierschutzrechtliche Pflicht, sich anschließend die nötige Zeit zu nehmen, um das Pferd mit Abschwitzdecken und genügend Bewegung aktiv trocken zu bekommen. Die Zeitersparnis durch Scheren darf NIEMALS das primäre Motiv sein.
Bei den meisten Freizeitpferden ist das Scheren unnötig. Korrektes Abschwitz-Management und die Anpassung der Trainingsintensität an die Wetterbedingungen sind die tiergerechtere Lösung. Das Wohlbefinden des Pferdes darf nicht dem Wunsch nach schneller Trocknung oder ästhetischen Gründen untergeordnet werden.
