
Reiten hinter der Senkrechten
Die Grundlagen:
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Beim Reiten hinter der Senkrechten (die Nasenlinie befindet sich hinter dem Lot) wird der Pferdehals in eine unphysiologische Beugung gezwungen. Diese Praxis widerspricht den Grundprinzipien der klassischen Reitlehre und ist aus tierschutzrechtlicher Sicht massiv zu kritisieren, da sie die Anatomie des Pferdes missachtet und chronische Schmerzen verursachen kann.
Die korrekte Haltung erfordert eine aktive Nutzung der Oberhalsmuskulatur sowie der Bauch- und Tragemuskulatur. Nur so kann der Rücken aufgewölbt und die Last des Reiters gesund getragen werden.
Das Genick
Das Genick des Pferdes ist anatomisch der Gelenkpunkt zwischen dem ersten Halswirbel (Atlas, C1) und dem Schädel und befindet sich direkt hinter den Ohren, wo sich auch das Genickstück der Trense befindet. Es ist ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt für die Balance und die korrekte Versammlung.
Grundsatz: In der gesunden, korrekten Anlehnung muss das Genick immer der höchste Punkt der Halsoberlinie sein, und die Nase muss vor oder maximal an der Senkrechten sein. Nur so kann die tragende Muskulatur richtig arbeiten.
Der "Falsche Knick"
Beim Reiten hinter der Senkrechten oder bei falschem Zwang entsteht oft ein "falscher Knick" tief im Hals, meist im Bereich des dritten oder vierten Halswirbels (C3/C4).
Dieser Knick ist ein Abwehrmechanismus: Das Pferd entzieht sich dem Druck der Zügel nicht im Genick, sondern weicht an einer weniger stabilen Stelle aus. Die Folge ist, dass das Genick absinkt und die Halsoberlinie unterbrochen wird. Dies suggeriert lediglich eine äußere Form der Beugung, anstatt eine echte Losgelassenheit.
Physiologische und Biomechanische Schäden
Die erzwungene Haltung führt zu einer Kette von negativen Auswirkungen:
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Durch den Zwang wird die Oberhalsmuskulatur in die Länge gezogen und in ihrer Aktivität gehemmt. Stattdessen nutzt das Pferd die Unterhalsmuskulatur (M. sternocephalicus, M. brachiocephalicus), um sich auf den Zügeldruck zu legen. Diese Muskeln drücken den Rücken des Pferdes nach unten und fördern damit die Trageerschöpfung.
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Das Reiten hinter der Senkrechten belastet die Gelenkflächen der Halswirbel (C3 bis C7) enorm. Studien (z.B. Clayton, 2010) konnten nachweisen, dass die Wirbel stark komprimiert werden, was langfristig das Risiko für schmerzhafte arthrotische Veränderungen und Überdehnung der Nackenbänder erhöht.
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Die vermehrte Beugung führt zur Kompression des Kehlgangs. Die große Ohrspeicheldrüse, die sich in diesem Bereich befindet, wird gegen den Knochen gequetscht. Dies verursacht akuten Schmerz, der das Pferd weiter in die Zwangshaltung treibt und die Funktion der Drüse sowie die Durchblutung des Gewebes beeinträchtigen kann.
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Die Zwangshaltung verengt die oberen Atemwege (Pharynx und Larynx), da der Kehlkopf gequetscht wird. Dies reduziert den Luftstrom signifikant (bis zu 50%). Der daraus resultierende Sauerstoffmangel (Hypoxie) erhöht die Herzfrequenz und versetzt das Pferd unter chronischen, körperlichen Stress, was durch erhöhte Cortisolwerte belegt ist.
Die Verbindung zur Trageerschöpfung
Das Reiten hinter der Senkrechten ist ein Hauptfaktor für die Trageerschöpfung.
Trageerschöpfung entsteht, wenn das Pferd die Last des Reiters nicht über die tragende Muskulatur (angehobener Rücken, aktive Bauch- und Oberhalsmuskeln) trägt, sondern den Rücken wegdrückt und sich in die Hände des Reiters lehnt.
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Das Reiten hinter der Senkrechten verhindert, dass die tragende Oberhalsmuskulatur aktiv wird. Stattdessen wird die Unterhalsmuskulatur überbeansprucht, welche den Rücken nach unten drückt und versteift. Solche Pferde sind auch nur schwer auszusitzen.
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Die Last wirkt direkt auf die Dornfortsätze der Brust- und Lendenwirbelsäule, was zu chronischen Rückenschmerzen und dem gefürchteten Kissing-Spines-Syndrom führen kann. Das Pferd ist nicht in der Lage, sich gesund und losgelassen zu bewegen.
Die Kritik an den Verbänden (FN/FEI)
Offiziell schreiben die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) und die Fédération Équestre Internationale (FEI) in ihren Richtlinien die korrekte Anlehnung vor oder an der Senkrechten und die Losgelassenheit des Pferdes als oberstes Gebot vor. Doch die Realität in den Trainings- und Turnierarenen offenbart eine bedauerliche Duldung, die den Tierschutz untergräbt.
Die FEI hat zwar die extremste Form der Rollkur (Hyperflexion mit offenkundigem Zwang) offiziell verboten, gleichzeitig aber eine sehr ähnliche, unphysiologische Zwangshaltung namens LDR (Low, Deep and Round) als zeitlich begrenzte Trainingsmethode toleriert.
Das Regelwerk erlaubt die Anwendung von LDR auf dem Abreiteplatz für maximal 10 Minuten am Stück. Diese "10-Minuten-Regel" ist aus tierschutzethischer Sicht hochproblematisch, da sie impliziert, dass ein physiologisch schädlicher Zwang durch eine bloße Zeitbegrenzung akzeptabel wird. Die Schäden an der Halswirbelsäule, die Quetschung der Ohrspeicheldrüse und die Atemwegsverengung sind nicht nach 10 Minuten verschwunden, sondern treten bereits auf.
Kritiker wie z.B. der Reitmeister Philippe Karl weisen darauf hin, dass diese Zeitbegrenzung eine ethische Kapitulation darstellt. Man muss sich die Frage stellen: Ist eine Handlung, die das Tierwohl verletzt, plötzlich in Ordnung, nur weil sie kurz ist? Das ist vergleichbar mit der Aussage: Es ist in Ordnung, einem Menschen Schmerzen zuzufügen oder ihn zu missbrauchen, solange man es nach 10 Minuten beendet. Diese Parallele verdeutlicht, wie zutiefst ethisch fragwürdig diese Regelung ist, da sie das Pferd in seiner Würde und Unversehrtheit nicht schützt, sondern den Missbrauch legalisiert, solange er zeitlich limitiert bleibt.
Die theoretisch korrekten Regelwerke der Verbände werden entwertet, da Richter und Stewards oft wegschauen oder nicht ausreichend geschult sind, um den "falschen Knick", das Absinken des Genicks und die Rollkur/LDR konsequent zu ahnden. Solange diese offensichtlichen Tierschutzverletzungen unter dem Deckmantel des Hochleistungssports geduldet werden, um den sportlichen Erfolg zu ermöglichen, bleibt eine kritische Distanz zu diesen Verbänden notwendig, um das Wohl des Pferdes konsequent und bedingungslos zu schützen.
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